Ein Bericht von Pastor i.R. Dr. Günter Ebbrecht, Einbeck
Nun schon zum 15. Mal lud die Kirchengemeinde Friedrichsbrunn zum Bonhoeffertag ein, in diesem Jahr am 19. Augustt. Petrus meinte es gut mit der ‚Bonhoeffergemeinde‘. Bei klarer Sonne und unter blauem Himmel wurde der Tag mit einem Gottesdienst im Garten des Bonhoefferhauses eröffnet. Unter den Linden wehte ein laues Lüftchen. Das kräftige Dach der Baumkronen, auf den alten Fotos der Familie aus der Zeit um 1915 noch zarte Lindenbäumchen, schützte die Gottesdienstgemeinde und zwei Kinder mit ihren Eltern und Paten, die getauft wurden, vor der prallen Sonne.
Die Gemeindepfarrerin Ursula Meckel gestaltete den Gottesdienst zusammen mit der Superintendentin des Kirchenkreises Halberstadt Angelika Zädow. Wurde beim 14. Bonhoeffertag 2011 ein neues Taufgeschirr vorgestellt, so konnten 2012 damit zwei Kinder der Kirchengemeinde Friedrichsbrunn getauft werden. Gottes Volk wächst! Als Taufspruch schlug Superintendentin Zädow die Tageslosung vor: „Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“ (1.Petr. 5,5). In einer Dialogpredigt loteten die beiden Predigerinnen aus, was ‚Demut‘ bedeutet: „Ich weiß, dass ich das Wichtige im Leben geschenkt bekomme und mir nicht erarbeiten oder verdienen kann und muss: die Liebe der Eltern und Familie, Freundschaft, vertrauen können, Geborgenheit erleben, glauben…“ Hochmütig sind jene, die meinen, sie verdanken alles sich selbst, vor allem das, was gelingt.
Das Wort ‚Demut‘ verrät, dass Mut dazu gehört, demütig zu sein. Damit öffnete Pastorin Meckel eine Tür zu Dietrich Bonhoeffer. Sie zitierte aus seinem Gedicht ‚Wer bin ich?‘ das Schlussgebet: „Wer ich auch bin. Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.“ – Ausdruck der Demut vor Gott. In einer Charakteristik Bonhoeffers von einem Mithäftling heißt es: „Immer bewies Bonhoeffer Haltung. Er war ganz Bescheidenheit und Freundlichkeit und verbreitete um sich eine Atmosphäre der Dankbarkeit, dass wir leben.“ So setzte der Taufgottesdienst einen ersten Schwerpunkt des Tages. Die Ortsgemeinde war einbezogen, so dass sichtbar wurde: der Bonhoeffertag Friedrichsbrunn wird getragen vom Volk Gottes vor Ort. Er ist geerdet, nicht nur in der frischen Luft unter den Linden mitten in der Mittelgebirgslandschaft des Harzes, an die sich Dietrich Bonhoeffer im Tegeler Gefängnis als gute Geister, die ihn umgeben, erinnert. Natur als Gottes schöpferisches Geschenk und Menschen als Geschenke Gottes, als ‚Gotteskinder‘, wie die Predigerinnen im Gottesdienst weiter erläuterten!
Im Gottesdienst und im Verlauf des weiteren Tages wurden die Teilnehmer/innen darüber informiert, dass am 9. Juni 2012 ein ‚Träger- und Förderverein Bonhoeffer-Haus Friedrichsbrunn‘ gegründet wurde. Die Gäste aus nah und fern, darunter auch Mitglieder der Internationalen Bonhoeffergesellschaft wurden eingeladen, Mitglieder zu werden, um die Erinnerungs- und Bildungsarbeit im Bonhoefferhaus zu unterstützen. Mit ihr wird an die gesamte große und mutige Familie Karl und Paul Bonhoeffer erinnert und ihr Wirken gestern, heute und morgen den Besucher/-innen erschlossen.
Dies vermochte in einer besonderen Mischung aus persönlichen Eindrücken, geschichtlichem Gedenken, historischen Reflexionen und humorvollen Geschichten Dr. Tobias Korenke aus Berlin, der Enkelsohn von Dr. Rüdiger und Ursula Schleicher, geb. Bonhoeffer, mit seinem Vortrag in der Bonhoefferkirche: „In weiter Ferne, so nah. Meine Großeltern Rüdiger und Ursula Schleicher, geb. Bonhoeffer“. Er nahm am Nachmittag die Besucher/innen mit auf den Weg dieser beiden Menschen, die seinem Eindruck nach nur gemeinsam zu denken und zu beschreiben sind. Dies zeigten u. a. Briefe aus den Jahren 1924 bis 1944, die der Referent im Moment entziffert und intensiv studiert. „Er (Rüdiger Schleicher) wurde das, was er war, durch sie (Ursula Bonhoeffer). Und sie wurde das, was sie war, durch ihn. Und trotzdem – oder vielleicht auch deswegen – waren sie beide ganz eigenständige Persönlichkeiten,“ so der Referent.
Tobias Korenke erzählte zunächst den Werdegang seines Großvaters und seiner Großmutter getrennt voneinander, bis daraus 1923 eine gemeinsame Geschichte wurde. Er verwies dabei u. a. auf die Biografie Rüdiger Schleichers von Uwe Gerrens. Er hob die Selbstbezeichnung Rüdiger Schleichers als eines ‚süddeutschen Liberalen‘ hervor. Seine Briefe und seine Lektüre zeigten, „wie sehr schon der Student davon überzeugt war, dass es weniger individuelle Interessen als Tugenden und Gemeinsinn sind, die einen politischen Verband zusammenhalten.“ Korenke zeichnete das Bild seines Großvaters als Vertreter einer ‚national-kommunitären‘ Kultur, zu der der Referent u. a. auch Max Weber und Friedrich Naumann zählte, die Rüdiger Schleicher studierte.
Auch Korenkes Großmutter Ursula war bestimmt von einer den Menschen zugewandten Lebensweise, die von ‚Mitgefühl‘ geprägt war. Das Elternhaus, die Geschwisterschar und die Freundschaften haben dazu beigetragen, dass sie ‚Fürsorgerin’ (heute: ‚Sozialarbeiterin‘) wurde und in einem Berliner Stadtteil tätig war, der, wie der Referent durch Recherche herausfand, zum Rotlichtmilieu gehörte: „Darüber hätte meine Großmutter uns nie berichtet,“ jedoch von ihrem beruflichem Engagement für sozial schwache Familien. Liebevoll beschrieb der Enkelsohn seine Großmutter, die er erst zwei Jahrzehnte nach der Ermordung seines Großvaters erlebte: „Ich finde: Schon auf den bekannten Familienbildern der acht Bonhoeffer-Kinder fällt meine Großmutter auf – weil sie besonders schön war, und schön blieb sie bis ins hohe Alter. Sie hatte wunderbare Haare, die auch im Alter noch schwarz waren, und sehr schöne große dunkle, warme, sanfte Augen. Ihre Haut kam mir auch im hohen Alter noch glatt und durchscheinend vor. Und“ – hier spricht der Enkel – „sie roch unübertroffen gut. Ihre entschiedene, klare Art muss Rüdiger sofort gefallen haben… Sie hatte einen wunderbaren trockenen Humor, der Spott durchaus einschließen konnte. Und sie liebte die Musik. Sie hatte auch eine schöne Stimme.“
Tobias Korenke beschrieb nicht nur anschaulich das Leben im Hause Bonhoeffer und im Hause seiner Großeltern, wie dies den Kindern ihre Mutter Christine Korenke, geb. Schleicher oft erzählt hat. Er schilderte die politische Grundhaltung der Herkunftsfamilie, die die Nazis ablehnten und die gesamte Familie in den politischen Widerstand führte. Die bedrückende berufliche und politische Situation Rüdiger Schleichers in der zunehmenden Pervertierung des Rechts- in einen Unrechtsstaates mit Naziterror wurden in seinen Ausführungen ebenso lebendig wie die Kraftquellen des Widerstandes erkennbar wurden: die Bekennende Kirche, die Ablehnung der Judenverfolgung, das Wissen um die barbarische Rechtsbeugung, die durch ‚Mitwissen‘ das Gewissen schärfte.
Dem Referenten gelang es, ein Ehepaar im Widerstand zu zeichnen, ohne einer ‚Heldenverehrung‘ zu verfallen. Als Historiker wahrte er einen reflexiven Abstand zur eigenen Familie und fragte zum Schluss eindringlich: „Wie wird man (gemeint ist hier u.a. die Großmutter) mit so einem Verlust fertig? Und wie geht man mit dem Wissen darum um, dass die Liebsten im eigenen Land, von ‚Landsleuten‘ umgebracht wurden? Wie konnte man in einem Land weiterleben, in dem die ‚Mörder unter uns sind‘ …?“ Er gestand freimütig: Ich weiß es nicht.
Knapp schilderte er die finanziell engen Verhältnisse nach dem Krieg und die seelischen Wunden angesichts der langen Weigerung der BRD-Justiz, die Unrechtsurteile des Volksgerichtshofes aufzuheben und das Wirken des Widerstandes zu rehabilitieren. Er führte aus: „Ich bin davon überzeugt: Meine Großmutter hat die Ermordung ihres Mannes, die Ermordung ihrer engsten Verwandten nie überwunden. Ihre Erfahrung, was Menschen Menschen antun können, hat sie tief geprägt. Sie hat gelernt, damit zu leben. Irgendwie.“ In wenigen Strichen zeichnete er die Nachkriegsgeschichte seiner Großmutter. Allmählich erklang wieder Musik im Hause und es wurden Feste gefeiert. Das Interesse an Politik erwachte erneut und das Herz für sozial Schwache wurde wieder weit. Doch die tiefe Verwundung blieb, so dass der Großenkel sich scheute, die Großmutter nach den letzten Monaten und Tagen der Haft des Großvaters zu fragen und wie sie mit dem gewaltsamen Tod ihres Mannes umging.
Der Enkel verschwieg die ins Bodenlose führende Frage nicht: Wofür? Die vordergründige Antwort, dass der 20. Juli 1944 dazu beigetragen habe, Deutschland in die Völkerfamilie aufzunehmen, reiche ihm nicht. Er fragte bohrend nach dem Preis, den die Männer und Frauen des Widerstandes samt ihrer Familien gezahlt hätten. „War es das wert? Wofür?“ So fragt der Enkel sich, der diese Schwindel erregende Frage weder seiner Großmutter noch seiner Mutter wagte zu stellen. Er selber findet die Antwort darauf in der Formulierung von Rabbiner Albert Friedländer: „Das große Geschenk, das uns durch die Männer (ergänze: auch Frauen) des Widerstandes erreicht, ist der Beweis, dass Widerstand möglich war, genau in der Zeit, in der die große Mehrheit das Gift getrunken und sich unter die Diktatur gestellt haben. Sie standen fast allein.“ Diese Antwort klingt bescheiden, nicht heldenhaft und doch fordert sie mutige Menschen, die zugleich ‚demütig vor Gott‘ sind. Tobias Korenke ermutigte die Zuhörer/-innen, die ‚Möglichkeit zur Alternative‘ als Ansporn zu ergreifen. Denn nichts ist alternativlos und sog. Sachzwänge sollten uns nicht von der Suche nach besseren Lösungen und ihrer Umsetzung abhalten. Dazu braucht es einen couragierten Geist. „Rüdiger und Ursula Schleicher haben diesen Geist vorgelebt. Sie konnten und wollten nur so leben.“ Mit diesen Worten entließ der Referent seine Zuhörerschaft, die ihm mit einem kräftigen Applaus dankte.
Der 15. Bonhoeffertag klang aus in einem meditativen und zugleich ermutigenden Abschluss einer Collage aus Texten und Musik, die Angelika Zädow, Sopran, und Ursula Meckel, Sprecherin, begleitet von Kirchenmusikdirektor Gottfried Biller vortrugen. „Wir wollen aufstehn, aufeinander zugehn, voneinander lernen, miteinander umzugehn. Aufstehn, aufeinander zugehn und uns nicht entfernen, wenn wir etwas nicht verstehn“, sang die versammelte Gemeinde zum Schluss, gestärkt und ermutigt von Gottes Aufstand und der Menschen Widerstand, wie ihn die Familie Bonhoeffer in unterschiedlicher Weise in ihrer Zeit geglaubt und gelebt hat. Pastorin Meckel lud alle ein, am 25. August 2013 den 16. Bonhoeffertag zu feiern – so Gott will und wir leben. 2013 ist das Jahr, in dem der Ankauf des Ferienhauses der Bonhoeffers in Friedrichsbrunn sich zum 100. Mal jährt. Ein Grund mehr, den couragierten Geist dieser Familie tiefer zu verstehen in einer Umgebung, die Dietrich Bonhoeffer als „gute Geister, die mich umgeben,“ bezeichnet hat.